zum 100. Geburtstag des RWV Kassel und zum "Fliegenden Holländer"
Der RWV Kassel feierte seinen einhundertsten Gründungstag. Viele Gäste, darunter 18 Mitglieder aus dem Verband Hannover, nahmen an den Feierlichkeiten teil. Am 28. März vormittags wurde das Ereignis würdig begangen. Aus den Reden der Vorsitzenden, der Politiker und des erfreulich engagierten Intendanten des Staatstheaters Kassel hörte jeder heraus, wie bereichernd die Beschäftigung mit dem Werk Richard Wagners trotz aller Widersprüche ist. Die Mitglieder der Richard Wagner Verbände sind Vorbilder für ehrenamtliche Kulturpolitik!
Am Abend wurden dann "der fliegende Holländer" und am nächsten Tag ein sehr schönes Wagner Festkonzert geboten. Womit beschäftigt man sich als Freund von Wagner Werken aber am meisten? Na klar: mit der Opernaufführung. Lesen Sie bitte hier unsere Eindrücke, wie wir diese dann auch in dem darauf folgenden "Wagner Jour Fixe" diskutiert haben.
Der fliegende Holländer" oder "Who is Who in the navy?" Das freie Assoziieren kennt man aus der Psychoanalyse oder als Gesellschaftsspiel, um eine Person zu erraten. Deshalb fragten sich die achtzehn Musikfreunde des Richard-Wagner-Verbandes Hannover nach äußerst zwiespältigen Erfahrungen in Freiburg, Würzburg und vor allem nach den Scheußlichkeiten in Essen: "Was ist dem Regieteam in Kassel denn jetzt bloß zum Holländer eingefallen?"
Während der stürmisch, aber unverhetzt und so farbenreich-detailliert vorgetragenen Ouvertüre belehren auf den Vorhang projizierte Texte den Zuschauer bei Brecht ist das legitim - und dokumentieren die Belesenheit der Dramaturgin, während der Musikfreund es eigentlich vorzieht dem Orchester unter der sympathischen und aufmerksamen Leitung von Patrik Ringborg zuzuhören. Die Bühne von Cordelia Matthes zeigt eine hell-graue Felsenlandschaft mit einem Steinbogen in Richtung Meer, aus diesem Teufelsblock brachte eine heftige Bö mit Tunneleffekt Dalands Schiff sieben Meilen vor dem Heimathafen vom Kurs ab. Rechts ein spitzer Kletterfelsen, daneben ein Gang Richtung Land.
Kapitän und Schiffseigner Daland, der elegante Geschäftsmann - eine Freude für Auge und Ohr, hat den Sprung von seinem Kreuzfahrtschiff, ohne nass zu werden geschafft. Dagegen schlurfen dann seine Passagiere, die das Abschiedsdinner hastig in ihrer Abendgarderobe verlassen mussten, zerzaust und vor Wasser triefend, einige mit Rettungswesten auf die rettenden Felsen. Die Paillettenkleider der Damen - wohl noch aus der letzte "Lustigen Witwe" - glitzernde durch den reichlich wabernden Nebel. Young-Hoon Heo, gibt Flaggensignale, singt kraftvoll sein Lied vom Südwind, Senta, die unter den Passagieren war, spielt mit ihrer Digitalkamera, hantiert dann mit ihrem Koffer, diesem überstrapazierten Symbol der "Unbehaustheit" und verschwindet mit Papa Daland hinter einem Felsen.
Der Steuermann und die erschöpften Passagiere schlafen ein, in den Trompeten und Hörnern ertönt das Quart-Quint-Holländer-Motiv, Bratschen und Celli brummeln übellaunige Sextolen und eine schmuddelige, rothaarige Männergestalt mit bekleckertem, blassgrünen Pullover über den ansehnlichen Genießerbauch schleicht heran. Es könnte "Falstaff" sein, der dem Waschkorb und der Themse entsteigt! Aber nein - es ist "Der fliegende Holländer" und alle Vorfreuden der ZuschauerInnen auf einen attraktiven, dämonischen Heldenbariton sind dahin.
Warum nur, Frau Kostümbildnerin Sabine Blickenstorfer? Das ist umso trauriger, als Stefan Adam kultiviert mit schlank geführter Stimme, das Timbre mit gutem Vokalausgleich bis in die hohe Lage - das gefürchtete F bei hr Welten und das massive E beim Schluss nimm mich auf - singt und dabei auch gut textverständlich ist. Warum nimmt der Regisseur Lorenzo Fioroni die Titelfigur die Chance als lonesome hero die Seefahrer und die Frauen zu beunruhigen, hat doch sein Lehrmeister Götz Friedrich ihm gewiss geraten, erst einmal den Text sorgfältig zu lesen? Als Unappetitlicher durch die Welt zu trotteln, hat kein Heldenbariton verdient.
Das prächtig von Mario Klein und Stefan Adam gesungene Duett Daland / Holländer erfreut dann auch unsere Ohren und dankbar nimmt man zur Kenntnis, dass Daland nie in das Klischee des plumpen Verhökerers der Tochter verfällt, sondern ganz wacher Geschäftsmann bleibt. Als Opfer der Finanzkrise nimmt er trotzdem gierig, statt der von Richard Wagner vorgeschlagenen Realwerte - Goldschätze, Perlen, Edelsteine - faule Papiere an und muss sie später resigniert ins Wasser streuen.
Der Wind hat sich gedreht, der Steuermann meldet es, aber jetzt stellt das Einheitsbühnenbild von Cordelia Matthes dem logischen Ablauf ein Bein und man fragt sich: "Who is Who in the Navy? "Passagiere, Offiziere, Stewards, Mannschaft von Daland, Mannschaft des Holländers, Dorfbewohner?
Also, dann: auf in den ehemals zweiten Aufzug oder "Wenn Frauen spinnen"!
Einen geeigneten Partner für sich und die Nachkommen zu ergattern, strengen sich menschliche und tierische Weibchen gehörig an. Auf den Turnierplätzen der Hirsche und Pfauen, am Arbeitsplatz, am Swimmingpool, auf Parties präsentieren sie ihre Vorzüge. In Richard Wagners 19. Jahrhundert waren hausfrauliche Fähigkeiten und in der Mittel- und Ober-Schicht ein wenig Bildung gefragt.
Das heutige Girly ist vor allem "body-gebuildet" und so erscheint Senta ja auch im Mini-Pailettenkleidchen drahtig und durchtrainiert in Gestalt der kampferprobten Astrid Weber, die in allen Lebenslagen technisch perfekt singen kann. Den exzellent klingenden Frauenchor des Staatstheaters Kassel präsentiert Regisseur Lorenzo Fioroni als Fitness-Truppe, angefeuert von der Trainerin Mary. Schwärmerisch herzt Senta ein Buch mit dem Portrait des Holländers als sei es ein Poster der Jungs von "Tokio-Hotel" und singt am Felsen kraxelnd wie auch bäuchlings darauf liegend, tadellos, strahlend die Ballade. Ina Kalinina mit Traumfigur und echter runder Altstimme provoziert spinnend-wippend aber so sehr die Männer, dass sie später aufgehängt am Seil baumeln muss. Mord oder Selbstmord? Ein Fall für den "Tatort".
Senta will weder spinnen noch "strechen", sie fotografiert sich in gequälten Posen und als ihr Handspiegel zerbricht und sie sich mit einer Scherbe verletzen will, hält ein adretter junge Mann, ihr verlobter Erik, sie davon ab. Er ist unter all den Irren dieser Inszenierung der einzig Bodenständige. Jörg Dürrmeier singt den Erik mit schönem Legato, ein leichter, heller Tenor, der sich mit der extrem hohen Lage der Partie nicht plagen muss. Würde er statt des hellen Knödels des späten Peter Schreier, sich den makellosen Fritz Wunderlich zum Vorbild nehmen, wäre das Zuhören noch angenehmer. Eriks Traumerzählung atmosphärisch vom Staatsorchester mit allen instrumentalen Finessen begleitet, bringt atemlose Stille in den Saal. Senta phantasiert sich das Ziel ihres Erlösungswahns herbei, Erick stellt fest:"Sie ist dahin!"
Daland hat Holz von der Seitenbühne geholt, der Holländer, der bei den Pfadfindern gut aufgepasst hat, drillt ein Stöckchen, entzündet es und verbindet sich in einer finsteren Feuerzeremonie mit Senta. Sie setzten sich an einen Hochzeitstisch, zwei Autisten, jeder für sich in seinem Wahn gefangen. Das Volk, von Hunger, sexuellem Ãœberdruck und Inselkoller befallen, streift alle Zivilisation ab, schleppt einen erlegten Auerochsen herbei, frisst rohes Fleisch, beschmiert sich mit Dreck und Blut, fällt über die Frauen her, der Steuermann, der anfangs mit der Pistole fuchtelte, leitete vom Kletterfelsen den Hexensabbat. Dazu steuern Chöre, Orchester und Tontechnik volle Phonstärke bei; Richard Wagner hat für Menschen in Extremsituationen eine wahrhaft wüste Musik geschrieben, die in einem fff-Akkord endet, verhallt und im Tamtam pianissimo verzischt.
Das Volk versinkt in der Untermaschinerie, Erik versucht an gemeinsame Erlebnisse anzuknüpfen, bietet stimmlichen Schmelz und Richard Wagners mit Mordenten geschmückte Kadenz auf, aber Senta ist nicht mehr auf dieser Welt. Der Holländer zeigt Photos der zahllosen Frauen, die seiner fixen Idee von der Treue bis in den Tod zum Opfer fielen, Erik funkt mit Spiegelsignalen SOS an ein vorbeifahrendes Schiff, mit hoher Konzentration schwingt sich der Heldenbariton von Stefan Adam auf das hohe F - "Fahr hin, mein Heil", Astrid Weber aktiviert sportlich ihre Kräfte für "sein Gebot" und "treu dir" auf A und H und bricht zusammen.
Eriks Hilferufe haben Erfolg! Einige frisch gewaschene und gebügelte weiße Uniformen betreten die Bühne, Senta greift nach einem feschen Offizier - er könnte Leutnant Linkerton sein und in der verebbenden Musik Richard Wagners eröffnet sich zart ein: "Fortsetzung folgt."
Die Musikfreunde erlebten eine spannende Geschichte mit der intelligenter Personenführung und überraschenden Details. Wie aber ergeht es dem jungen Menschen, der den "Fliegenden Holländer" noch nie gesehen hat?
MLG