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Ein kleiner, feiner Kern von fünfzehn neugierigen Musikfreunden aus Hannover machte sich auf nach Kassel zu einer Aufführung der 'Meistersinger' über die im Internet viel Positives in Bezug auf die sängerische und musikalische Leistung, jedoch recht Eigenartiges über die szenische Realisation berichtet wird: die Meistersinger als Clowns.

Wie immer bemühte sich jeder offen und vorurteilsfrei dem langen Abend entgegenzusehen.

Gut gefüllt der wohlproportionierte Zuschauerraum mit seiner Holztäfelung in unterschiedlichen angenehmen Brauntönen. 

Erster Aufzug:

Statt Vorhang eine Kinoleinwand. Kraftvoll erklingt das Vorspiel unter der Leitung von Patrik Ringborg, der auch die gesamte Vorstellung besonnen leitet und kleine Wackler geschickt einrenkt. Auf der Leinwand wird die Sprengung eines Varieté-Theaters namens Poesie gezeigt, so dass eine Ruine zu sehen ist. Im Hintergrund die Bilder berühmter Clowns. Ein Gesangverein mit den Damen des Vorstandes bringt den Sonntagschoral zu Gehör und der aufmerksame Zuschauer entdeckt Paris Hilton (Eva), Whoopy Goldberg (Magdalena) und Paul Potts (Walther von Stolzing), gesungen von Barbara Havemann, Lona Cullmer-Schellbach und Erin Caves.

In der zweiten Szene packen die Damen und Herren des Musikverein-Vorstandes – die Nachfolger der Lehrbuben in der Version des Regisseurs Lorenzo Fioroni – kräftig an und basteln aus den Trümmern des gesprengten Varietés die Einrichtung für die angesagte Freiung. David, der agile, erfreulich textverständlich, operetten- und musicalerfahrene, dazu noch hell und knödelfrei singende Tenorbuffo Johannes An, bringt Walther, dem Contest-Kandidaten die vertrackten Regeln, die dazu noch schwer zu lernen und zu singen sind, mit Eleganz bei.

Veit Pogner, ein attraktiver, junger Bass, tritt in der Promi-Version als Richard Gere mit weißer Haartolle auf. Mario Klein sieht sehr schmuck aus, singt aber flauschig und hohl, was nicht sein müsste. Herr Beckmesser, Espen Fegran, mimt mit dem Stöckchen ein wenig Charlie Chaplin, was zu seiner robusten Gestalt und der kehlig geführten Stimme nicht recht passt, bewältigt die knifflige Partie aber sicher und routiniert. Die Meister erscheinen, wie im Gangster-Film mit Instrumenten-Kästen ’bewaffnet’, in denen sich aber keine Knarren, sondern Gitarren der Amateur-Band, die den Kandidaten begleiten wird, befinden. Tobias Schabel, in Hannover wohlbekannt z.B. als Wotan, eröffnet als Fritz Kothner die Sitzung und unsere Ohren und Augen jubeln. An ihm ist alles wie es sein soll: gutes Aussehen, körperliche Beweglichkeit, Spielwitz und eine gesunde, genau fokussierte Stimme mit persönlichem Timbre.

Hans Sachs, Wolfgang Brendel, ist wohl Star genug, dass er als er selbst kommen darf. Souverän ist er der natürliche Mittelpunkt als Darsteller und seine Stimme ist so kraftvoll, jugendfrisch und unermüdlich, dass wir uns genießerisch zurücklehnen können und die Damen besonders erfreut sind, wenn die Regie dem ansehnlichen Mann erlaubt, ganz nah ans Publikum zu kommen. (Unvergesslich für mich, mit ’Grünauge’, wie ich ihn nenne, gesungen zu haben.)

Die Handlung des ersten Aktes geht weiter und es ist schon ärgerlich, dass Richard Wagner es nicht lassen kann, immer wieder verächtliche Bosheiten gegen Frauen zu verbreiten. Ist es nicht schon dreist genug, dass der reiche Herr Pogner seine Tochter als Preis für den Gesangswettbewerb auslobt, ihr zwar erlaubt, einen Kandidaten abzulehnen, dann aber nie heiraten darf:  ’die Maid kann dem verwehren, doch nie einen andren begehren.’ Hans Sachs nimmt Eva zwar in Schutz, meint aber auch, dass ’der Frauen Sinn, gar unbelehrt’ sei und wankelmütig wie das Volk – gut dass dieser Unsinn längst widerlegt ist. Dann darf Erin Caves sich auf dem wackligen Singestuhl vor das ebenso wacklig schwankende Mikro begeben, nachdem – sicher ein Probenspaß – die Kollegen seine Zähne kopfschüttelnd begutachtet hatten. (Sie erinnern sich an den spießigen Anzug und das scheußliche Gebiss, als Paul Potts mit ’Nessun dorma’ alle Pop-Sänger aus dem Feld schlug und die Jury zu Tränen rührte.)

Wir hören ’Am stillen Herd in Winterszeit’ und erfreuen uns an einem Tenor, der so gekonnt in Phrasierung, Textverständlichkeit, dazu gesangstechnisch richtig, nämlich alles aus dem Lyrischen entwickelnd, singt, dass sich wahres Belcanto-Glück über das Publikum ausbreitet und bis zu den letzten Strapazen des Preisliedes im dritten Akt anhält.
Die Turbulenzen zum Schluss des ersten Aktes werden von allen Beteiligten mit viel Spaß im Verstecken vor der Grundstückswache und im plötzlichen Regen, auch mit Tobias Schabels wildem ’Rolling-Stone’ Luftgitarrensolo ausgespielt, dazu vorzüglich gesungen. Das Publikum schmunzelt und kichert ob der Gaudi und der Applaus ist herzlich.

Jedoch: Die Herrschaften des Regisseur-Theaters behaupten, man müsse die alten Stücke herüberziehen in unsere Zeit, um sie für heutige Menschen verständlich zu machen. Auch habe Richard Wagner in seinem Aufsatz: ’Das Kunstwerk der Zukunft’ (1849) die Idee von der Inszenierung als autonome Kunstform aufgegriffen. Obwohl Text und Partitur Werke sui generis sind, ist die Inszenierung ein anderes Werk sui generis.

Warum so bequem? Warum nicht ein neues Stück, meinetwegen nach Motiven der Meistersinger? Eine Rock-Band statt Symphonie-Orchester, das wäre wenigstens ehrlich!

Zweite Aufzug:

Das Bühnenbild von Paul Zoller zeigt den Innenhof eines Plattenbaus, erstaunlich sauber. Hatte man nicht den üblichen Müll erwartet? In einem Blumenkasten an der Treppe blüht Flieder, wohl eine Neuzüchtung, denn der Flieder braucht Platz für seine tiefen Wurzeln. In den Fenstern zeigt sich das Leben: ein tanzendes, knutschendes Paar, eine Mutter mit Baby, ein bösartiger Clown und Hans Sachsens Wohnung mit den Plakaten von Clowns. Der Meister nimmt öfters einen Schluck aus der Schnaps-Pulle.

Magdalene als Evas Nachbarin und Freundin fragt - mit üppig waberndem Mezzo - David nach dem Ausgang von Stolzings erstem Vorsingen, das aber leider ’versungen und ganz vertan’. Beim Abendspaziergang wird Vater Pogner von Zweifeln geplagt, ob seine Loyalität zu seinem Verein zu weit geht, wenn er seine Tochter zwingt, den Sieger des Wettbewerbs zu nehmen, aber keine Sorge, solch ein hochblondiertes society-girl kriegt immer ihren Traummann, zumal Barbara Havemann mit großen, leuchtenden Tönen singt, und so wird das Gespräch mit Sachs und die Begegnung mit Walther samt seinem Wutausbruch gegen die Meister und ihre Reimgesetze ’Leimen und Kleister!’ zum Hörgenuss.

Das kahle Bühnenbild bietet kein Gebüsch und keine Linde zum Verstecken, nur einen Treppenabsatz, während die Hilfreiche Magdalene mit Gesichtsschleier im rosa Fummel für Beckmesser die Angebetete mimt. Der erscheint im buntglitzernden Clown-Kostüm – nur Regisseur Lorenzo Fioroni weiß, warum er ihn so anzieht. Also konzentriert man sich auf Wolfgang Brendels prachtvolles Singen, bis Beckmessers quälendes Ständchen in der gut choreographierten Prügelei endet, bei der einige in Randale geübte Jugendliche zuschlagen, als wären sie reisende Hooligans. Die Polizei führt die Hauptverdächtigen ab, Igor Durlowski singt mit russischer Stimmschulung seinen Nachtwächter-Vers als böser Clown am Fenster, warum weiß vielleicht Regisseur Fioroni. Vorhang, E-Dur-Akkord fortissimo, Jubel für Sänger und Orchester.

Jedoch: Was bringt es an Erkenntnis, wenn man, wie eingangs auf der Kinoleinwand gezeigt, die Poesie weggesprengt, zu einem mittelalterlichen Thema, zu romantischer Musik, Sänger-Darsteller in heutiger Privatkleidung zeigt. Das hatten die doch schon wochenlang auf der Probebühne an und wir, die Zuschauer, erleben die Alltäglichkeit ringsum.

Dritter Aufzug:

Polizeirevier, Ausnüchterungsraum, weiße Kacheln, eine gemauerte Liegebank, darauf eine eingemummelte Gestalt, davor hockend Hans Sachs. Das wunderbar melancholische Vorspiel, in dem das Orchester seine kammermusikalischen Fähigkeiten zeigen kann, führte nach Richard Wagners Vorstellung in Hans Sachsens Werkstatt. Seit sich der Regisseur dünkt Co-Autor und Poesie weggesprengt wurde, nehmen die geduldigen Wagner-Freunde dankbar zur Kenntnis, dass hier in Kassel bisher noch kein Blut und keine Fäkalien geflossen sind. Ein Polizist lässt den munteren David mit einem Geschenkkorb herein, der singt frisch und textverständlich sein Sprüchlein und lässt, nachdem er schnell den Korb geschnappt hat, den Meister mit seinen Gedanken über der Menschen Wahn allein. Atemlos andächtig lauscht das Publikum der ewigen Frage: ’warum gar bis aufs Blut / die Leut' sich quälen und schinden / in unnütz toller Wut!’

Gütig wie er ist, macht Hans Sachs einen Kobold verantwortlich, und wenn er aus dem Knast-Fenster sein ’liebes Nürenberg’ betrachtet, steigen uns böse Bilder von hemmungsloser Machtgier auf. Ob es der ’homo sapiens’ irgendwann schafft, ’dass er den Wahn fein lenken kann?’ Die Gestalt auf der Wandbank schält sich aus ihrer schäbigen Decke, hat ’fest und gut’ geschlafen und Wolfgang Brendel und Erin Caves im Gespräch über Lebenserfahrung und jugendlich, drangvolle Unsicherheit so herzerwärmend singen zu hören, lässt die gekachelte Krimi-Umgebung verschwinden und die Melodie von  ’Morgendlich leuchtend in rosigem Schein’ vergoldet auch die ambitionierteste Dekonstruktion.

Walthers Gedicht wird in Ermangelung eines Tisches an die Kachelwand geklebt (woher hat Sachs nur den Tesa-Film?) Walther wird von der Polizei entlassen und der ramponierte Clown-Beckmesser festgesetzt. Der Arme muss nun, statt Richard Wagners Pantomime-Musik zu einem darstellerischen Kabinettstück zu machen, in einem Permanent-Tremor auf der Bank hocken.

Zurück im Plattenbau kämpft Eva um ihre Schuhe und ihre Liebe, Hans Sachs zitiert König Marke, das Quartett mit voneinander abgewendeten Figuren (warum?) findet sehr schön gesungen statt und dann: ’Auf, nach der Wies, schnell auf die Füß!’ In einer Umkleidekabine, links vorn, wird Wolfgang Brendel in Canio, den Bajazzo, verwandelt – auch ein gutes Stück, aber mit der Musik von Ruggiero Leoncavallo – sind wir im falschen Film?

Die Bühne öffnet sich, zeigt Treppensitze auf die buntgekleidete Reisende mit Koffern, Koffern, Koffern zuströmen. Der Chor singt irgendwo von Sankt Krispin, vom Schneider, der im Bocksfell die Stadt rettete, vom Bäcker, der zauberhafte Tanz der Mädel von Fürth findet nicht statt, einen Parade von Clowns erscheint, es sind die Meister. Liebhaber der höchst ehrbaren Kunst der Spaßmacher werden die einzelnen Typen erkennen, es ist ein hübsches, buntes Bild, aber was hat das mit den Handwerkerzünften der Meistersinger zur Zeit von Hans Sachs um 1550 zu tun?

Prächtig singen die versammelten Chöre ’Wach’ auf!’ Dann stellt das platte Bühnenbild allem Geschehen ein Bein. Die Aktionen gehen unter! Erin Caves singt sein Preislied wirklich meisterlich und jeder gönnt ihm in der nächsten Inszenierung einen schöneren Platz. Zu Hans Sachsens Ansprache ’Verachtet mir die Meister nicht’, dieser humanistische Aufruf Tradition und Fortschritt in Einklang zu bringen – geht das Licht aus, der Chor, das Volk ist weg.

Natürlich hören wir Wolfgang Brendel gerne zu, denn er singt so begeisternd, dass es gleichgültig ist, ob in Privatkluft, in einem Kartoffelsack oder im Clowns-Kostüm, und die letzte Hürde, das verdammt lange ’E’ von das ’Heil'ge Röm'sche Reich’ strömt so grenzenlos, als ob die Vorstellung gerade angefangen hätte. Er ist wahrhaft ein ’Meistersinger’. Das Publikum jubelt, die Sänger, das Orchester, der GMD werden mit Recht geehrt. Dank der Leistungen der Sänger-Darsteller und ihrer Spielfreude war diese ins ’Heute’ versetzte Inszenierung eine kurzweilige Gaudi.

Jedoch: Reicht das aber aus? Diskussion erwünscht!

MLG

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