Wer nach Dessau reist, wird dort mit der Allgegenwart der Meister des Bauhauses, die in den 1920er Jahren Architektur und Design revolutionierten, um für die arbeitenden Massen Wohnraum und Gebrauchsgegenstände, die sowohl funktional als auch ästhetisch, zu schaffen, konfrontiert.
Der eklektizistische Protz der Gründerzeit und die ornamentale Ästhetik des Jugendstil waren in den Brutalitäten des Ersten Weltkrieges untergegangen, so dass ein Weg gesucht werden musste, der nüchtern, nicht bedrückend, bezahlbar, aber nicht ärmlich, Raum für Produktionsstätten und Wohnungen erstellte.
Da in jeder Zeit alles mit allem zusammenhängt, wurde auch das Theater von diesen Gedanken erfasst und die Strenge der Architektur fand in der Biomechanik der Schauspielererziehung von Wsewolod Meyerhold den Ansatz, emotionale Bewegungen nicht mehr spontan, sondern einem Formcodex folgend, auszuführen.
Robert Wilson nahm diesen Bewegungskanon wieder auf, setzte sich gegen das blut- und exkremente-triefende 'modische' Regisseurtheater ab - und hatte Erfolg.
Dne normalen Theaterbesuchern, die - mit Recht - von einer Aufführung erwarten, bewegt und bereichert zu werden, sind diese stilistischen Hintergründe gleichgültig.
Abend für Abend versammeln sich Menschen in Theatern und Konzertsälen - mehr als in Sportarenen - um sich von großen Dichtern und Komponisten Antworten auf die Fragen des Lebens geben zu lassen.
Das dürfen wir nicht 'modisch' zerstören.
Das 'Anhaltische Theater Dessau' hat sich entschlossen, den 'Ring des Nibelungen' zu produzieren, ein Vorhaben, das anlässlich des 200. Geburtstages von Richard Wagner zur Zeit Hochkonjunktur hat.
Welcher forsche Dirigent prahlt nicht gerne: 'Ich habe den Ring dirigiert' und welcher Intendant erhofft sich nicht, eine Stufe höher auf dem Karussell zu erwischen, wenn er sagen kann:
Ich habe in .... den 'Ring' gemacht!'
Für mich stellt sich die Frage:
Ist es wichtiger, so oft wie möglich und an so vielen Orten wie möglich, den 'Ring' aufzuführen und sei es noch so begrenzt in den künstlerischen und finanziellen Mitteln oder soll Bayreuth wieder Festival mit den weltbesten Spitzenleistungen werden?
Da das Anhaltische Theater Dessau eine solide Wagner-Tradition hat, bezogen die 22 Mitglieder des RWV Hannover erwartungsfroh ihre Sitzplätze im 1072 Personen fassenden Raum.
Der erste Bläserakkord ist wegen der unterschiedlichen Ansatzzeiten der Instrumente sehr schwer zusammenzubringen und so drücke ich als ehemalige 2. Norn und Waltraute die Daumen, dass es nicht klappern möge - aber es klappert - beim dritten Akkord sind die Kameraden dann zusammen -
'weißt du wie das wird?'
Der Vorhang geht auf, die drei Nornen erscheinen, die Kegel des 'Triadischen Balletts' von Oskar Schlemmer, in weiß, die Schicksalsfäden ziehen sich als Bänder hinauf, sehr schön, sehr sinnvoll.
Die Stimmen dieser drei Sängerinnen sind die erste Visitenkarte eines Hauses. die 1. Norn - Rita Kampfhammer an diesem Abend, auch noch als großartige spannungsvolle Waltraute und dritte Rheintochter zu hören, erfreute uns mit einer gut ausgebildeten Mezzostimme, satten, runden Tönen und der Dramatik, die man von den Nornen aufgrund der schweren Instrumentation erwarten muss.
Ihre beiden Schwestern waren mit ihren hellen Stimmchen bei den Rheintöchtern besser aufgehoben. Da zeigen sich die Grenzen eines Hauses in den Besetzungsfragen!
Also dann:
'Zu End' ewiges Wissen!
Der Welt melden Weise nichts mehr!'
Das Mutterrecht endet, das Zeitalter des Mannes, des Kriegers, des Patriarchen beginnt.
Rechtsbruch, Umweltzerstörung, das 'Weib' wird für Jahrtausende aus der menschlichen Gemeinschaft ausgesperrt - all' das sagen uns die Nornen - wir sollten genau hinhören!
Das Motivgeflecht aus Siegrieds Heldenthema und Brünnhildes Liebe kündigt uns die beiden Hauptfiguren an.
Und was für Figuren: eine schöne Frau, Jordanka Derilova, wie alle Mitwirkenden im weißen Körpertrikot, darüber ein Oberteil aus versteifter Seide, Dreiecke in petrol und pink, ein steifer kurzer Rock in dunkelgrau und Hosenbeine in schwarz, rückwärts offen wie Gaucho-Beinschoner, so dass beim nach hinten Gehen ein reizvoller Einblick auf einen wohlgeformten 'Po' entstand.
Suse Tobisch, die Kostümbildnerin, hat unseren wachen Männeraugen wohl eine Freude in dem düsteren Stück machen wollen.
Na, und dann Siegfried: Arnold Bezuyen. Auf hohen Plateausohlen im Stechschritt - wohl eine Verbeugung vor Fürst Leopold von Anhalt-Dessau (1676 - 1747), dem großen Feldherrn und Heeresreformer, der den Gleichschritt seiner Soldaten einführte - in weiße Bandagen eingewickelt, roter Schaumstoff-Perücke, Nothung in einer blaumetallenen Scheide auf dem Rücken, stakst er als lächerliches Produkt aus Frankensteins Werkstatt durch das Stück.
Das Zwiegespräch über die Macht der Liebe - die Richard Wagner als Einbahnstraße vom Weib zum Manne führend ansah, während der Mann frei sich nehmen konnte, was er wollte - ließ mich Schlimmes befürchten, denn die Stimme der schönen Brünnhilde überschritt das natürliche Vibrato erheblich in Richtung 'Schlacker'. Glücklicherweise war es wohl nur anfängliche Nervosität denn im Laufe des Abends hatte sie ihr Organ so gut im Griff, sang technisch und ausdrucksmäßig immer besser, so dass ihr Schlussmonolog ein wahres Meisterstück wurde.
Ihr Agenten, hetzt diese wunderbare Künstlerin mit dem Sieger-Gen in Zeiten der Wagner-Hochkunjunktur nicht zu Tode, damit wir uns noch lange an ihr erfreuen können!
Arnold Bezuyen kennen und schätzen wir als Charaktertenor und begnadeten Darsteller, der auch in kleinen Rollen alle Blicke auf sich zieht.
Nicht vergessen in Bayreuths 'Meistersinger', noch vor der 'Katharina-Quatsch-Inszenierung' oder als Pfaffe in Herheims 'Parsifal' oder aus seiner Augsburger Zeit als 'Loge', 'Aegisth', 'Pinkerton', 'Ismaele'.
Die Natur vergibt aber ihre Gaben recht unterschiedlich und ein Heldentenor soll außer seiner Stimmkraft auch eine schöne, edle Stimme sei eigen nennen, sonst ist er nicht 'der hehrste Helde der Welt'.
Ich frage mich, warum er sich und uns das antut und schweige mit 'des Sängers Höflichkeit.'
Mit einem prächtigen 'hohen C' Brünnhildes verabschiedet sich Siegfried zur Rheinfahrt, die uns das Orchester schwungvoll unter seinem Dirigenten Antony Hermus miterleben ließ, allerdings war auch zu bemerken, welch kniffliges Instrument das Horn ist.
Die Halle der Gibichungen, Metall-Gestänge, Aufzüge, Projektionen aus geometrischen Formen in reinen Farben, die sich je nach Seelenlage zu Mischfarben verändern.
Ein schlüssiges Ausdrucksmittel, das aber, wenn es übermäßig verwendet wird zur störenden Zappelei verkommt.
Frank Vetter und Michael Ott, die 'Videografen' könnten auch manchmal auf Richard Wagners Text und Musik vertrauen und ihren Spieltrieb etwas zügeln.
Gunther, Ulf Paulsen, eine elegante Erscheinung mit edlem Cäsaren-Haupt drückt seine Erregung durch eine flatternde Hand vor der Leibesmitte aus und singt ziemlich angestrengt.
Diese Geste, die auch der Chor bei Aufregung benutzt, gibt natürlich zu vielfältigen Spekulationen in medizinischer Hinsicht Anlass.
Seine Schwester Gutrune, Angelina Ruzzafante, wurde wohl nächtens von einem Vampir gebissen, denn eine Blutspur rinnt von ihrer Unterlippe. Dabei hat sie ein solch fröhliches, helles Stimmtimbre, dass ich sie innerlich als 'Wildschütz-Baronin' -
'auf des Lebens raschen Wogen'
trällern höre.
Endlich Hagen - Stephan Klemm - in erdigem Braun und grauen Farben gewandet, eine blau-verfärbte Narbe im Gesicht, Beulen auf dem Glatzkopf, aber mit einer wohltuend gepflegten Bass-Stimme, die unterstützt von einer nie brutal polternden, sondern an sich selbst leidenden Darstellung dieses Halb-Nibelungen - Verständnis, Mitgefühl sogar Sympathie in uns weckte.
Siegfried stakst herein und wird mit dem Vergessenstrunk, der hier nur eine Geste ist, an Gutrune gebunden. Das schnell wirkende Gift treibt Gunthers neuen Blutsbruder fort nach Norden, um mit Betrug und Gewalt Brünnhilde herbeizuschleppen.
Nun donnern die Tuben und Kontrabässe den Tritonus, das 'Teufelsintervall' abwärts und ich freue mich auf Hagens Nachtgesang:
'Hier sitz ich zur Wacht, wahre den Hof, wehre die Halle dem Feind.'
In Ermangelung einer Sitzgelegenheit stützt sich Stephan Klemm auf seinen Speer und singt dieses Meisterwerk Richard Wagners so todtraurig, sanft und samtig, dass diese Selbstanklage einen hartgesottenen Staatsanwalt erweichen könnte.
Das Gibichungengestänge verschwindet, der Walkürenfelsen, gedrehte, schwarz-lackierte Stufen, erscheint.
Brünnhilde lässt den Ring, der hier ein dicker Armreif ist, funkeln, als Waltraute zu ihrem Bericht über den desolaten Zustand der Götter in Walhall erscheint. Wie so oft, bin ich auch bei Rita Kampfhammer stolz auf meine schön singende, gut sprechende und phrasierende Mezzo-Sangesschwester und frage mich immer wieder, warum die Komponisten des neunzehnten Jahrhunderts, die doch so fortschrittlich sein wollten, starr das Schema von Primadonnen (hoch) seconda donna (mitteil) und domestica / madre (tief) beibehalten haben?
Hier sangen zwei großartige Frauen ebenbürtig miteinander. die allmächtige Bühnentechnik hatte sie zwecks nachfolgendem Umbau leider zu weit hinten platziert, so dass doch bei dem forsch aufspielenden Orchester stimmlich manches unterging.
Mit einem geschmetterten hohen 'A' verabschiedet sich Waltraute - Brava!
Das reiterliche Walkürenmotiv verklingt und macht Platz für ein paar ruhige Takte der Naturbetrachtung, dezent erleuchtet von Loges Feuermotiv in der Flöte.
Siegfried stapft herein, ohne Tarnkappe, und nur weil sie sich nicht umdreht, erkennt Brünnhilde ihn nicht.
Ein Regieeinfall des Herrn Bücker, den ich nicht nachvollziehen kann.
Die Schöne, Traurige, Entgöttlichte wird vom Monster überwältigt, das wahrlich nicht von 'Hellas nächtlichem Heer' kommt. also gut, er wird sie nicht anrühren 'die Treue wahrend dem Bruder', das Treueschwur-Motiv fetzt herauf, Ende des 1. Aktes.
Zweiter Akt
Das Vernichtungsmotiv grummelt und verheißt nichts Gutes, sondern Vater Alberich, Nico Wouterse, Stipendiat des RWV Dessau im Jahr 2006. Das war eine gute Investition, denn im düsteren Nachtgespräch zeigt sich eine sehr präsente Persönlichkeit mit gut sitzender Stimme und ebenso gut verständlicher Diktion. Seine fixe Idee, den Ring und damit die Macht wieder zu erlangen, drückt sein Gewand aus:
eine riesiger roter Reifen umgibt schräg seinen Körper, ein konkret gewordener fanatischer Wunsch. Während die väterlichen Forderungen auf ihn herunterprasseln, windet sich Hagen in Schmerz über sein Los, eine Reaktion, die ich noch nie so gesehen habe. Immer wieder kann man Neues entdecken und das Stück interpretieren, ohne 'modisch* zu verfälschen.
Nun naht die schändliche Hochzeit, Siegfried prahlt, wie er Brünnhilde bezwang und Hagen ruft seine Mannen, eine bleiche Schar von Kahlköpfen, denen er ein ordentliches Gelage verspricht, damit der Opernchor, der Extra-Chor und der 'Erste Freie Deutsche Opernchor e.V.' einen gewaltigen Gassenhauer in der Einstudierung von Helmut Sonne schmettern können.
Bei Brünnhildes Erscheinen werden alle sehr kleinlaut und begrüßen sie in schüchternem piano, das erst nach acht Takten sich zum Pflichtjubel steigert.
Unheil liegt in der Luft, Gunthers Hand flattert, die Hände des Chors flattern, unter Brünnhildes Blick gerät Siegfrieds Kopf in Zuckungen, bis es herauskommt:
'dem Manne dort bin ich vermählt.'
Siegfrieds Tod wird beschlossen
'träfst du im Rücken ihn'
rät Brünnhilde,
'und dort trifft ihn mein Speer' beschließt Hagen.
Arnold Bezuyen wird froh sein, dass der zweit Akt bald überstanden ist, denn am Ende seiner Erzählung
'In Hof und Hain, heiter vor allen sollt ihr heute mich sehn' -
ließen ihn langsam seine Kräfte im Stich.
Brünnhilde, Gunther und Hagen vereinen sich zum pompösen Racheschwur-Terzett, in dem die kämpferische Kammersängerin 'Brünnhilde' Derilowa so richtig auftrumpfen kann.
Der dritte Akt überrascht uns am Anfang mit Hörnerklang unterschiedlicher Qualität, dann mit zarten, chromatischen Klängen, viel Harfe und dem Terzett der Rheintöchter, diese angetan mit steifen, hellblauen Gewändern, deren helle Oberstimmen jetzt zur Musik passen. Die Harmonien, die sie zu singen haben, gibt es erst wieder bei Claude Debussy, so fortschrittlich erweiterte Richard Wagner schon die Tonalität.
Nach einigem neckischen Geplänkel warnen sie ihn vor dem Fluch des Ringes, Siegfried nimmt es nicht ernst, sondern mäkelt am Keifen der Frauen herum, hätte sich aber trotzdem gerne eine
'frisch gezähm!t'
Die Jagdgesellschaft und Hagen erscheinen und bitten Siegfried aus seinen Jugendtagen zu singen, nach dem Waldvogelmotiv fordert Hagen:
'So singe, Held!'
Hier geschieht etwas Seltsames, denn Arnold Bezuyen zitiert Mime in Rhythmus und Sprache und jetzt stimmt es. Sein Timbre, der Charakter:
'Mime hieß ein mürrischer Zwerg,
in des Neides Zwang zog er mich auf ...'
Da zeigt sich der wahre Charaktertenor.
Es ist ein langer Bericht, eigentlich müsste er hier das Gegengift zum Vergessenstrank bekommen, aber hier genügt der Regie eine Geste und die Erinnerung kommt wieder. Und jetzt ist aber der Heldentenor gefragt und selbst ein solcher hat sein liebe Not mit mit den letzten schweren Phrasen bis er endlich sterbend hinsinken darf.
Hier aber wird Siegfried ausgeschaltet, eine Playmobil-Figur, zieht sich in den Chor-Pulk zurück - kein Aufbahren der Leiche.
Der Trauermarsch, eine erschütternder Klagechor von den Nationalsozialisten missbraucht wie 'Les Préludes' von Franz Liszt - verursacht immer wieder eine Gänsehaut und das Orchester kann ohne Rücksicht auf Sänger alle Kräfte zeigen.
Gutrunchen irrt suchend umher, die Geschwister streiten, Hagen rechtfertigt seinen Mord an Siegfried, ersticht Gunther, der gemäß Regie erstarrt stehen bleibt - wieder eine ausgeschaltete Puppe.
Der Raum weitet sich für den Chor, ein gläserner Kasten mit einem weiß gekleideten Kind, den goldenen Reif am Arm schwebt herab und Brünnhilde beginnt ihren Schlussgesang.
Alle Hubpodien haben viel zu tun, alle Zeichen und Symbole werden projiziert, der Knabe steigt aus den Glaskasten, die Rheintöchter fahren hinauf, Hagen hinunter, aber bei alle dem singt Jordanka Derilova mit höchstem Können und perfekter Krafteinteilung wunderbar leuchtende Töne bis zum Schluss - Bravissima!
Der Vorhang schließ sich, das Knäblein läuft suchend umher, aha - die ganze Sache beginnt von vorn, ein Weltenzyklus endet, ein neuer beginnt.
Nach kurzem Atemholen jubelt das Publikum, Sänger, Chor, Orchester, Dirigent, Technik werden gefeiert.
Wir 22 RWV-Hannover-Mitglieder sind aufgeregt über das Gehörte und vor allem Gesehene, essen, trinken und diskutieren bis Mitternacht und einige zeitlich darüber hinaus.
So darf man sich ein lebendiges Vereinsleben vorstellen.
Marie-Louise Gilles